Räuchertürken

Die Seiten 14 bis 17 und  aus dem Buch.


S. 14 - 17:    "Auch wenn für mich die Heidelberger Herkunft der ersten gedrechselten Räuchermännchen feststeht und damit unsere gemeinsame Heimat auch zum Ausgangspunkt dieses Buches geworden ist, will ich nicht verschweigen, dass es auch eine andere Geschichte gibt: Im Westen des Erzgebirges kommen wir da zu Johann Carl Gottlob Börner nach Neundorf (heute ein Ortsteil von Thermalbad Wiesenbad und nicht mit Neudorf in Sehmatal zu verwechseln). Neundorf liegt bei Ehrenfriedersdorf. Der Ortschronist von Mauersberg, Karl-Heinz Melzer, ist der Meinung, dass Börner „wahrscheinlich schon vor 1850 mit der Herstellung gedrechselter Weihnachtsfiguren“ begann. In seinem Räuchermann-Buch zeigt er den „wahrscheinlich ältesten erhaltenen erzgebirgischen Räuchermann“.[1] Melzer verwendet eine schlechte Fotokopie aus seinem eigenen Archiv und schreibt den Räuchermann Johann Börner zu. Es handelt sich mit Sicherheit um den nebenstehenden Türken.  

Ich habe den alten Lichtertürken im Museum für Sächsische Volkskunst Dresden im Jägerhof gefunden und fotografiert (siehe Abb. 7). Er wird im Museum als Räuchertürke bezeichnet, ist aber beides. Man könnte ihn als „Rauchenden Lichtertürken“ oder als „Lichter tragenden Räuchertürken“ bezeichnen. Auf jeden Fall ist er ein „Räuchermann“. Der Gründer und erste Leiter des Museums Oskar Seyffert hat in seinem zuerst 1924 veröffentlichten Spielzeugbuch den ausgestellten Mann zu einer Zeichnung von Walter Trier kommentiert: Er erinnere an einen der heiligen drei Könige. „Aber manchmal erinnert er auch an ein Räuchermännchen.“[2]

In der Online Collection der Sächsischen Kunstsammlungen Dresden (SKD) ist beim Räuchertürken mit der Inventar-Nr. G 719 unter Material und Technik angeführt: „Fichtenholz, gedrechselt, beschnitzt, Gesicht, Arm, Kragen und Rockbesatz aus Masse geformt, bemalt“. Als Abmessung werden 28,5 cm angegeben. Ein Restaurierungsprotokoll des Museums belegt, dass es sich tatsächlich um eine Räucherfigur handelt, die aus zwei Teilen besteht und mit den notwendigen Luftöffnungen versehen ist.

Als Entstehungszeit wird im Museum Mitte 19. Jahrhundert angegeben, als Entstehungsort „Umgebung von Annaberg“, also Westerzgebirge. Für beide Angaben will und kann sich niemand verbürgen.[3] Zu der Vermutung, es könne sich um den gleichen Hersteller handeln wie bei ebenfalls ausgestellten zwei Lichtertürken (ohne die Fähigkeit zu rauchen) von Familie Börner aus Wiesa[4], schreibt Kustos Karsten Jahnke: „Ich halte es – bei aller Ähnlichkeit, und nach dem direkten Vergleich für wenig wahrscheinlich, dass es sich bei dem Türken mit der Inv.-Nr. G 719 um einen Türken von Börner handelt.“[5] In seinem Weihnachtsfiguren-Buch hält Joachim Riebel eine sichere Börner-Zuschreibung für nicht möglich, stellt aber einen „Räucher- und Lichtertürken“ von Börner aus der Zeit von 1860 bis 1880 vor.[6] Riebel schwärmt, die Figur sei „nicht minder eindrucksvoll als das Dresdner Exemplar“, womit er zweifellos recht hat. Auffällig sei sein blaues Gewand. Nachweise für Herkunft und Entstehungszeit bleibt Riebel aber schuldig. Wir wissen noch nicht einmal in welchem Museum oder welcher Sammlung der blau Gekleidete steht.

 

Als lichtertragende Figuren im erzgebirgischen Weihnachtsbrauch treten schon in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Engel, Bergmänner und Türken auf. Türken sind vor allem aus dem Westen des Erzgebirges bekannt, wo sie in der Umgebung der Bergstadt Annaberg sogar häufiger vorkommen als die Bergmänner.[7]

 

Übrigens: Ein paar Worte sind noch zu den Türken in der sächsischen Volkskunst und damit auch unter den Räuchermännern erforderlich: Aufschlussreich in dieser Hinsicht war die 2019 im Museum für Sächsische Volkskunst gezeigte Sonderausstellung „Glück auf und ab im Erzgebirge“. Dargeboten wird der Bergmannsaufzug zur Fürstenhochzeit 1719 und erläutert werden seine Folgen für die Volkskunst. Zum barocken Prunk, den August der Starke zur Vermählung seines Sohnes mit der Kaisertochter entfaltete gehörte der Aufmarsch jener, die seinen Reichtum schufen, der Bergleute. 1.400 Bergleute wurden nach Dresden zum Saturnusfest in den Plauenschen Grund befohlen, mussten die vorgeschriebene Bergmannsuniform selbst finanzieren und marschierten zu einer offensichtlich sowohl für die hochwohlgeborenen Gäste als auch für die einfachen Berg- und Hüttenarbeiter eindrucksvollen Parade auf. Als Wach- und Ordnungskräfte wurden sächsische Soldaten, der damaligen Türkenmode in den europäischen Herrscherhäusern entsprechend, als Janitscharen – der Leibwache türkischer Sultane – verkleidet. Auch die Musiker stellten türkische Kapellen dar.[8] Es ist nun anzunehmen, dass mit den in ihre Bergstädte und Dörfer zurückkehrenden Bergleuten auch das Bild von den „Türken“ mitzog und die Erzählungen in langen Winternächten prägte. Die „Türken“ könnten sie wegen der exotischen Ausstrahlung sogar stärker beeindruckt haben als die zahlreichen Gäste Augusts des Starken in ihren prunkvollen Roben. In der Ausstellung heißt es: „Der kulturelle Gewinn … war gewaltig! Die Erzgebirger hatten Dinge gesehen und erlebt, die nachhaltigen Einfluss auf sie hatten.“
In der Folge tauchten Türken als exotische Spielfiguren auf. Bei den Weihnachtsfiguren sind sie dann seit Mitte des 19. Jahrhunderts dabei. Gefördert wurde das von der Affinität des Bürgertums gegenüber türkischer und orientalischer Kunst. Kaufkräftige Nachfrage nach weihnachtlicher Volkskunst kommt nun mal vom Bürgertum.[9]

Wie ist es nun zum Räuchertürken gekommen? Da brauchen wir etwas Fantasie: Die Türken tragen neben dem Licht in der einen, in der anderen, freien Hand die langstielige Pfeife, den Tschibuk. Bei den Engeln und Bergmännern mit zwei Kerzen ist eine weitere Steigerung des Effekts dadurch erreicht worden, dass über ihnen noch ein Joch steht, auf dem weitere vier (oder bis zu acht) Kerzen leuchten können. Liegt es nun nicht nahe, zu überlegen wie man die Wirkung bei den Türken steigert? Man könnte den Türken noch eine Kerze auf den Turban setzen, woran offensichtlich Seyffert und Trier gedacht haben. Ihr Türke trägt eine Kerze auf dem Turban-Aufsatz.[10] Sie sind aber einem Irrtum aufgesessen.[11] Weder eignen sich die Aufsätze als Tülle für eine Kerze, noch gibt es bei einem der vielen Türken Wachsspuren am Turban. Außerdem wären die Türken von herunterlaufendem Wachs verschandelt worden.[12] 

Man kann aber den Türken nicht nur leuchten, sondern auch noch rauchen und orientalisch duften lassen, zumal seine Verbindung zum Rauchen sowieso eng ist. Die vorhandene Pfeife regt zudem dazu an. Über die Pfeife ist es aber viel zu kompliziert. Es bleibt nur der Mund. Also nimmt der Drechsler den hölzernen Körper des künftigen Lichtertürken, drechselt ihn hohl, bohrt ein Mundloch und unten eine Lüftungsöffnung, stellt eines der schon vorhandenen Räucherkerzchen hinein, zündet es an und schon ist der rauchende Lichtertürke oder das lichtertragende Räuchermännchen in Türkenform fertig. Die ganze Familie freut es und auf dem nächsten Weihnachtsmarkt erregt das exotische Männchen unter den anderen Weihnachtsfiguren Aufsehen und wird gekauft. Das ist alles nicht wissenschaftlich und nicht bewiesen oder gar belegt. Es entbehrt nur nicht einer gewissen Logik. Für den Türken spricht zudem noch seine lang aufstrebende Figur, die einen guten Kamineffekt verspricht.

Auch könnte der Räuchertürke zuerst im Westerzgebirge das Licht der Welt erblickt haben, während etwa zur gleichen Zeit im Seiffener Raum volkstümliche Gestalten Räuchermännchen wurden. Solche Männchen sind vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von Haustein und Füchtner überliefert. Sie weisen eine ganz andere Körperform als die Räuchertürken auf. Die volkstümlichen Figuren                         haben einen kürzeren und gedrungenen, tonnenförmigen Oberkörper und lange, dünne Beine. Die Abbildung 8 zeigt einen Räuchermann von Füchtner, der das deutlich macht. Daneben die Figur von einem der Räuchertürken, auch von den Füchtners. Der Oberkörper des Försters erinnert eher an eine Nadelbüchse, während der Türke offensichtlich aus einer Holzdocke gemacht wurde.

Dass Räuchertürken im westerzgebirgischen Türken-Look auch bei Füchtner in Oberseiffenbach und bei Haustein in Heidelberg auftauchen, liegt eventuell daran, dass sich deren guter Verkauf auf den Weihnachtsmärkten in Annaberg und eventuell auch in Dresden und Nürnberg herumsprach. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Erzgebirger ganz gut vernetzt und die Nachahmung ist keine Erfindung unserer Tage.  


Oder, und das ist nun wirklich meine letzte, vielleicht zu wilde Spekulation: Der Räuchertürke mit der Inventarnummer G 719 könnte auch aus dem Seiffener Raum kommen. Zu ähnlich sind Figur, Kleidung, Bemalung, Verwendung von Teigelementen und Pfeife des Ur-Räuchertürken denen der Füchtner-Räuchertürken zwei Vitrinen weiter im Museum für Sächsische Volkskunst.[13]

Ein weiterer früher Entstehungsort von erzgebirgischen Räuchermännchen ist Kühnhaide, dort wo das Schwarzwasser vom Erzgebirgskamm kommt. Hier, am kältesten ständig bewohnten Ort Deutschlands produziert die Familie Timmel/Seerig in einem der „Vier Höfe“ am Waldrand gedrechselte Engel, Bergmänner und auch Räuchermännchen nach alter, eineinhalb Jahrhunderte währender Tradition.[14] Es sind sowohl Türken als auch volkstümliche Figuren dabei."

  ________________________________

[1] Melzer, K.-H.: Wenn´s Raachermannel naabelt, Friedrichsthal 2014, S. 14 f. Anmerkung K. B.: Während Melzer auf S. 14/15 zur Herkunft des ersten Räuchermanns aus Neundorf von „wahrscheinlich“ und „geschätzt“ schreibt, heißt es auf S. 17 das sei „nachweislich“.

[2] Seyffert, O., Trier, W.: Spielzeug, Dresden 1924, Auswahl 2003, Museum für Sächsische Volkskunst Dresden, S. 10 f.

[3] Der Räuchertürke wurde 1906 als „Leuchter (Türke)“ inventarisiert. Angekauft wurde er für 2 Mk. 50 Pf. bei Mädler, Friesengasse in Dresden. Ebenda, S. 10.

[4] Neundorf war nach Wiesa eingemeindet.

[5] E-Mail v. 14. 8. 2019.

[6] Riebel, J.: Erzgebirgische Weihnachtsfiguren, Chemnitz 2003, S. 35 f, Abb. 18, S. 88.

[7] Siehe: Riebel, J.: Lichtertürken im Festfiguren-Reigen, Freie Presse v. 30. 9. 2009, S. 14. Ders.: Erzgebirgische Weihnachtsfiguren, Chemnitz 2003, S. 29 f.

[8] Bisher wurden diese „Türken“ bei der Beschreibung der Bergparade 1719 nicht erwähnt und nicht gezeigt, z.B. Bergparaden im sächsischen Erzgebirge, Husum 2000.

[9] Vgl. Kulbe, N.: „Lichtertürken“ und demonstrierende Räuchermänner: Heimat in Gefahr? In: www.isgv.de – Aktuelles - Sachsen: Weltoffen, Dresden 2015.

[10] Seyffert, Trier: Spielzeug, a.a.O., S. 10 f.

[11] Siehe: Ebenda, S. 39.

[12] Später haben Auerbach und Kempe auch Türken mit Kerzen auf dem Turban gestaltet (siehe S. 116).

[13] Diese Ähnlichkeit muss auch Seyfferts Illustrator Walter Trier ins Auge gestochen sein, denn er zeichnet beide für das Buch „Spielzeug“ nebeneinander. Zur Ausstellung der Sammlung Voswinkel gibt es die Abbildung eines gut erhaltenen Räuchertürken von Haustein um 1860 (keine sichere Datierung!) in: www.maerkischer-kreis.de/kultur-freizeit/burg-alterna/archiv/Rauch-und-Duft.php und Ludewig, Th.: Geschichte und Popularisierung …, a.a.O., S. 7.

[14] Siehe: Riebel, J.: Weihnachtsfiguren des alten Erzgebirges, Husum 2011, S. 7 f, 15, 17.




S. 115 - 116: "Schon unter den ersten Räuchermännchen waren, wie sie weiter vorn gesehen haben, Angehörige verschiedener Völker. Allen voran die Türken (S. 15 ff.) – ja, der erste Räuchermann könnte sogar ein Türke gewesen sein. Aber auch Slowaken, Chinesen, Afrikaner (als „Mohren“ bezeichnet), Inder, Bulgaren, Russen, Tscherkessen, Grusinier, Mexikaner, Indianer und Schotten gibt es als Räuchermännchen. Nach meinen Beobachtungen sind sie in der zeitlichen Reihenfolge der Aufzählung unter den Männchen aufgetaucht. Figuren von fünf Kontinenten gehören zu dem internationalen Teil des bunten Räuchermann-Volkes.

Lassen Sie uns noch einmal zu den Türken zurückkehren, der größten Gruppe von „Ausländern“ aus meiner Sammlung. Meist werden die mit Kaftan und Turban bekleideten Orientalen als Türke, manchmal aber auch als Sultan oder Osmane bezeichnet. Die Bezeichnung Osmane geht auf die Bewohner des Osmanischen Reiches zurück, das von 1299 bis 1922 bestand und aus dem die heutige Türkei hervorging. Für die meisten der dargestellten Figuren ist die Bezeichnung Osmane also keinesfalls falsch. Die Seiffener Volkskunst eG produziert auch derzeit einen als Osmane bezeichneten Räuchermann.

Dass die Gestaltung der Türken/Osmanen so unterschiedlich ausfällt mag daran liegen, dass aus der Vielfalt der Vorbilder, vom Sultan, über den Händler bis zu den Janitscharen (Angehörige der Elitetruppen des Osmanischen Reiches) ausgewählt wurde. Auf die Janitscharen deuten zum Beispiel die Epauletten und die stilisierten Janitscharenhüte ebenso wie eine Waffe.  

Hervorzuheben sind aus der DDR-Zeit sicher die Räuchertürken die von Hans Brockhage für KWO[1] und von Hans Reichelt für VERO Seiffen entworfen, von Heinz Auerbach in der eigenen Seiffener Werkstatt hergestellt und von Hartmut Kempe, der einer Seiffener Spielzeugmacherfamilie entstammt und seine Werkstatt in Cossebaude bei Dresden hatte, gedrechselt wurden. Von allen diesen       

Räuchertürken sind Exemplare im Seiffener Museum zu sehen. Auch von dem bedeutenden Drechsler und Holzgestalter Helmut Flade aus Olbernhau gibt es einen lichtertragenden Räuchertürken aus Kiefer. Der Theoretiker und praktische Organisator der erzgebirgischen Spielwarenindustrie hat ihn 1959 entworfen.[2]

Im Museum ist mir aufgefallen, dass es offensichtlich eine Fortsetzung des Irrtums von Oskar Seyffert zu den Lichtertüllen auf den Türkenturbanen gibt (siehe S. 16 in diesem Buch). So haben zwei von den ausnehmend schönen Auerbach-Türken eine Tülle auf dem Kopf. Der eine hat in der freien Hand eine zweite Tülle und der andere einen Säbel. Auch das von Helmut Kempe um 1980 dem Lichtertürken-Räuchermann aus dem Dresdener Volkskunst-Museum nachempfundene Männchen trägt eine Tülle auf dem Kopf."

 

_________________________

[1] Siehe: Erzgebirgische Holzkunst aus Olbernhau, Olbernhau 1981, S. 14, 46 f.

[2] Flade, H.: Holz, Form, Gestalt, Seiffen 1998, S. 66.